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Tagesimpuls am 16.12.2021

Rose
Datum:
Veröffentlicht: 16.12.21
Von:
Dr. Alfred Beyer

Die Rose des Dichters Teil 1

Einige unter Ihnen werden jene, das Gemüt anrührende, Geschichte über den Dichter Rainer Maria Rilke vielleicht kennen, der während seines Pariser Aufenthalts täglich um die Mittagszeit mit seiner Begleiterin, einer jungen Französin, an einer alten Bettlerin vorbeiging. Stumm und unbeweglich - heißt es - saß die Frau da und nahm die Gaben der Vorübergehenden ohne jedes Anzeichen von Dankbarkeit entgegen. Ihrem Schicksal ergeben, hockte sie an der Mauer - ein lebendiges Bild des Bettelns. Der Dichter gab ihr, zur Verwunderung seiner Begleiterin, die selbst immer eine Münze bereit hatte, nichts. Vorsichtig befragt, sagte er: „Man müsste ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“ An einem der nächsten Tage erschien Rilke mit einer wundervollen, halberblühten Rose. Ah, dachte das Mädchen, eine Blume für mich, wie schön! Aber er legte die Rose in die Hand der Bettlerin. Da geschah etwas Merkwürdiges: Die Frau stand auf, griff nach seiner Hand, küsste sie und ging mit der Rose davon. Eine Woche lang blieb sie verschwunden. Dann saß sie wieder auf ihrem Platz, stumm, starr wie zuvor. „Wovon mag sie die ganzen Tage über gelebt haben?“ Rilke antwortete: „Von der Rose!“

Haben Sie das auch schon erfahren? Nicht Geld, nicht ein Geschenk hat Sie innerlich angerührt, sondern etwas ganz Anderes: ein freundliches Wort, eine Ermutigung, ein Zeichen, das gesagt hat: „Es ist gut, dass es dich gibt.“ Denken Sie einmal darüber nach, wie oft und in welcher Form ein anderer uns eine Rose in die Hand gelegt hat und nicht einfach eine Münze. Vielleicht erinnern Sie sich an die Liebe Ihrer Eltern. Oder Sie erinnern sich an symbolische Rosen, die von Ihrem Partner oder von Ihren Kindern oder von anderen Menschen kamen. Und wenn wir anderen eine Rose statt einer Münze in die Hand legen durften, waren wir dann nicht auch selbst beschenkt?